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Wenn wir über Heilung sprechen, meinen wir zu wissen, was es bedeutet: das Befreien von einer Krankheit, zum Beispiel einem Magengeschwür oder einem Tumor. Und dafür haben wir Medizin, wird uns suggeriert.
Wie oft erlebe ich in der Praxis, dass PatientInnen zu ÄrztInnen gehen und Heilung so erwarten, wie sie sich ein Stück Kuchen kaufen. Nach dem Prinzip: gib‘ mir die richtige Tablette und mach‘ mich heil.
Aber um das Thema »Heilung« wirklich zu erfassen, sollten wir zunächst definieren, wovon wir denn geheilt werden wollen. Dafür wenden wir uns der Krankheit zu. Aber wann ist man krank? Diese Frage wurde sehr unterschiedlich im Verlauf der Zeit beantwortet.
In der klassischen Zeit war Krankheit gleich Leid, wie sich aus einem Zitat von Sushruta, einem der bekanntesten ayurvedischen Ärzte zur Zeit der Upanishaden, erkennen lässt: Den Begriff »duhkha« kennt jeder, der sich mit Yoga auseinandersetzt. Es bedeutet Leiden, Unglück, Trauer, Schwierigkeit und Schmerz. Es ist das Gegenteil von »sukha«, Freude, Leichtigkeit oder Wonne. Verbindet man sich damit, entsteht »vyādhi«, wörtlich übersetzt »das, was viel duhkha hervorruft«. Der klassische Krankheitsbegriff ist damit vielschichtig und mehrdimensional. ÄrztInnen müssen keine Auffälligkeiten auf dem Röntgenbild oder im Labor finden, um PatientInnen ihre Krankheit zu bestätigen. Alles, was die PatientInnen selbst spüren, womit sie sich verbunden haben, das sich nicht freudvoll und leicht anfühlt, worin sie selbst Schmerz erkennen, ist Krankheit. Da ist es egal, ob dieses Leid körperlich, emotional oder spirituell ist. Ob es objektivierbar ist oder nicht. Jedes von der Person wahrgenommene Leid ist Krankheit.
Dieser Vers beinhaltet auch, dass die Patientin/der Patient nicht eins mit dem Leid ist. Der Begriff »samyoga« ist gemäß der Definition eine Verbindung, die wieder getrennt werden kann. Jedes Einzelteil ist dann ohne das andere auch komplett. Die Patientin/der Patient kann die Verbindung mit dem Leid beenden und ohne Krankheit sein. Auch dieser Teil der Krankheitsauffassung der klassischen Zeit ist bemerkenswert.
Heilung ist ebenso wie Krankheit und Gesundheit ein Begriff, der über die Jahrhunderte der Geschichte des Yoga großen Interpretationsveränderungen ausgesetzt war. Während Heilung im klassischen Sinne die Befreiung von der Verbindung mit jedweder Form von Schmerz bedeutete, wurde sie im Verlauf der Geschichte immer mehr auf spezifische Krankheiten bezogen. Das führt zu einer zunehmenden Einengung der Heilungsvorstellung, die sich in der heutigen Zeit vor allem auf den Aspekt der Notwendigkeit der ärztlichen Therapie beziehungsweise der Arbeitsunfähigkeit konzentriert. Yoga wurde zu allen Zeiten als Weg zur Heilung eingesetzt. Jeder der vorgestellten Verständnisebenen von Heilung wird Yoga gerecht.
In einer Zeit, in der das Leiden der Menschen immer weniger rein körperlich ist, sondern zunehmend geistig-spirituell wie heute, haben wir mit einem alten Heilsweg wie dem Yoga die Möglichkeit, Heilung umfassend zu verstehen und damit Einengungen durch die modernen Wahrnehmungen auszugleichen. Das Behandeln von Erkrankungen ist nur der erste Schritt. Das Befreien von der Verbindung mit dem Leid ist das eigentliche Ziel und die eigentliche Essenz des Yoga. Heilung ist damit immer etwas, um das wir uns aktiv bemühen müssen, nichts, was uns ÄrztInnen oder gar eine Arznei geben kann. Yoga ist der Weg dahin und das Ziel in einem.